Das Gottesbild des Alten Testaments

Jörg Jeremias

Philipps-Universität Marburg

 

Ein Thema wie das genannte versucht, aus einer großen Fülle an Gottesaussagen – in Texten sehr unterschiedlicher Art – die wesentlichen Aussagen auszuwählen. Eine solche Konzentration auf das Wesentliche ist ohne subjektive Auswahl nicht möglich. Um die Kriterien dieser subjektiven Auswahl offenzulegen, werde ich im 1. Hauptteil meines Vortrags die beiden hermeneutischen Weichenstellungen vorstellen und reflektieren, die meine Auswahl an Texten bestimmen: das Alte Testament a) als Buch über Gottes Handeln in der Geschichte und b) das Alte Testament als ein Zeugnis des Streites um die Wahrheit. Der 2. Hauptteil, der die Gottesvorstellungen inhaltlich behandeln soll, wird drei Teile enthalten: a) Gottes Heilstaten in der Geschichte, b) Gottes Verhältnis zur Welt und c) Gottes Handeln am Menschen, der ihn ablehnt.

 

Ich beginne mit der ersten hermeneutischen Entscheidung des 1. Teiles: Die Aussagen des Alten Testaments über Gott basieren auf geschichtlichen Erfahrungen.

 

 

Wer immer Texte der Bibel liest, spürt den zeitlichen Abstand zwischen unserer Zeit und der Zeit der Bibel. Die zwei Jahrtausende, die zwischen den Texten der Bibel und uns liegen, lassen sich nicht ohne weiteres überspringen. Dabei denke ich weniger an die weltanschaulichen Differenzen, so gewiss auch sie auf Schritt und Tritt spürbar sind, als vielmehr an den Charakter der Texte. Ich nenne nur die 4 wichtigsten Auffälligkeiten:

 

1.      Die Bibel ist zwar äußerlich für jeden gegenwärtigen Leser ein Buch, das Druckseiten zwischen zwei Buchdeckeln enthält, aber dieses eine Buch enthält zwei separat entstandene Sammlungen von verschiedenen Schriften, die aus der Überzeugung zusammengefügt sind, dass sie von dem gleichen Gott reden und für diejenigen, die an diesen Gott glauben, die entscheidenden, maßgeblichen und verbindlichen Mitteilungen von diesem Gott enthalten. Dennoch sind die beiden Teile der Bibel auch wieder unterschieden, wie daran deutlich wird, dass Christen und Juden den ersten Teil der Bibel, das sog. Alte Testament, gemeinsam lesen und als für sich verbindlich betrachten, während der zweite und spätere Teil, das sog. Neue Testament, das den Menschen Jesus als Messias und Sohn Gottes betrachtet, nur für die Christen verbindliche Texte enthält.

2.      Beide Teile der Bibel enthalten Sammlungen von unterschiedlichen Arten von Texten. Im Fall des Neuen Testaments herrschen zahlenmäßig Briefe vor, die frühe Autoritäten, besonders der Apostel Paulus, an ihre Gemeinden sandten, daneben Evangelien, die Aussprüche Jesu und Erzählungen über seine Leidensgeschichte enthalten. Im Fall des Alten Testaments enthält die Bibel eine ganze Bibliothek an längeren oder kürzeren Büchern, die sehr verschiedenartigen Charakter haben: teilweise Erzählungen über Gottes frühere Taten an seinem Volk Israel, teilweise Worte von Propheten über das zukünftige Handeln Gottes, teilweise Hymnen und Gebete für den Gottesdienst, teilweise didaktische Sprüche als Orientierung für ein gelingendes Leben im Alltag etc.

 

3.      Wichtiger als der unterschiedliche Charakter der Schriften ist die Tatsache, dass – mit Ausnahme einiger Briefe im Neuen Testament – kein einziges der genannten Bücher aus einer Hand stammt, also nur von einem Verfasser. Anders als bei Büchern unserer Zeit, die ein einzelner Autor geschrieben hat, kommen in den Schriften der Bibel verschiedene Stimmen zu Wort. Das ist bei den Sammlungen gottesdienstlicher Hymnen oder bei den Sammlungen didaktischer Sprüche relativ leicht zu verstehen, schwieriger dagegen bei den Sammlungen erzählender Tradition und bei den prophetischen Büchern. Ich möchte den Sachverhalt an den erzählenden Texten etwas näher erläutern. Bei ihnen hat die kritische Forschung herausgefunden, dass die ältesten Erzählungen nur einen begrenzten Themenbereich umfassten, z.B. Erzählungen von den ersten Königen: Saul, David oder Salomo, Erzählungen von dem großen Mose oder Erzählungen von den Erzvätern Abraham, Isaak oder Jakob. Solche begrenzte Erzählungen wurden in einem zweiten Schritt von einer späteren Zeit mit neuen Erzählungen ergänzt, wenn man noch anderes Erzählmaterial von den Königen oder Erzvätern kannte. Sie wurden in einem dritten Schritt in einer noch einmal späteren Generation miteinander verbunden, so dass nun Erzählungen über alle drei Erzväter – Abraham , Isaak und Jakob – oder über alle drei Könige – Saul, David und Salomo – entstanden, bis in noch wieder späterer Generation ein Erzählkontext von den Anfängen, d.h. von der Schöpfung der Welt über die Erzväter bis zu Mose oder sogar bis zu den letzten Königen Israels entstand. Damit nicht genug: Neben solche allmählich gewachsene Erzählzusammenhänge traten in noch einmal späterer Zeit neue Erzählungsentwürfe, die nun schon größere Generationenfolgen darstellten, etwa von der Schöpfung bis zum Tod des Mose oder vom ersten bis zum letzten König. Das Erstaunliche an diesem langen Prozess immer neuen Erzählens war aus unserer gegenwärtigen Sicht, dass die jüngeren großen Erzählungsbögen nicht die älteren Erzählungen, die allmählich über mehrere Generationen gewachsen waren, ablösten, d.h. nicht an deren Stelle traten, sondern vielmehr ältere und jüngere Erzählungszusammenhänge gleichberechtigt nebeneinander stehen blieben. Sie galten als gleichwertiges Zeugnis vom Handeln Gottes.

 

4.      Warum erwähne ich solche Einzelheiten, wenn doch das Gottesbild des Alten Testaments mein Thema ist? Für mein Verständnis der Bibel und besonders des Alten Testaments ist entscheidend, dass es Texte ganz unterschiedlicher Zeiten enthält. Zwischen den ältesten Texten der Bibel und den jüngsten liegen mehr als 1000 Jahre. Schon innerhalb des Alten Testaments allein sind die ältesten und jüngsten Texte mehr als 800 Jahre voneinander geschieden. Ja, es gibt einzelne Bücher im Alten Testament – wie z.B. das Buch des Propheten Jesaja –, in denen die ältesten und die jüngsten Stimmen mehr als ein halbes Jahrtausend auseinander liegen.

 

Warum ist dieser Sachverhalt so wichtig? Die Bibel als ganze, vor allem aber das Alte Testament, ist das Zeugnis einer Gotteserkenntnis, die durch immer neue Erfahrungen Israels hindurch immer stärker gewachsen ist. Die Fülle dieser Gotteserkenntnis steht erst am Ende, und die Bibel verbindet sie mit der Person Jesu Christi. Aber die Fülle der Gotteserkenntnis wäre nicht verständlich ohne den langen Weg dieser Erkenntnis, den die Texte festhalten wollen. Darum ist es so wichtig, dass die alten Texte neben den jungen Texten stehenbleiben und nicht von ihnen abgelöst werden. Die älteren Texte sind nicht weniger wahr als die jungen, auch wenn sie auf zahlenmäßig weniger Gotteserfahrungen zurückblicken. Um mit der Entwicklungspsychologie zu reden: Sie spiegeln den Kinderglauben Israels wider, der für das Leben des Gottesvolkes nicht weniger wichtig ist als der Glaube des reifen Erwachsenen. Die Texte der Bibel zeigen Menschen auf dem Weg; der Weg als ganzer ist wichtig, nicht nur sein Ende, sein Ziel. Weil es der geschichtliche Weg einer Gruppe von Menschen ist, die ihre Erfahrungen religiös deuten und verorten, können nachgeborene Generationen, d.h. auch unsere Generation, sich zu diesem Weg verhalten, können seine Ergebnisse aus den eigenen Erfahrungen heraus bejahen oder verwerfen.

 

Ich will versuchen, diesen theoretischen Gedanken kurz inhaltlich zu füllen. Wie wir dem vermutlich ältesten Hymnus des Alten Testaments (Ex 15,21) entnehmen können, war die grundlegende religiöse Erfahrung des biblischen Israel die Rettung vor einem Heereskontingent einer Weltmacht, der Ägypter, das durch ein überraschendes und unerwartetes Ereignis im sog. Schilfmeer ertrank. Im Hymnus werden mit den eisernen Kriegswagen die modernsten Waffen hervorgehoben, über die die Ägypter verfügten, die den damaligen Israeliten aber noch unbekannt waren. Das biblische Israel hat diese Erfahrung als „Wunderg gedeutet, d.h. als den Erweis, dass die Macht des rettenden Gottes die Möglichkeiten modernster Waffen übersteigt. In den folgenden Jahrhunderten haben andere Generationen ähnliche Erfahrungen gemacht, wenn sie mit Nachbarvölkern kämpften, die militärisch besser ausgerüstet oder aber an Zahl überlegen waren. Sie haben dann solche Bewahrungen nicht als neue Gotteserfahrungen verstanden, sondern als Bestätigungen der Ur-Erfahrung am Schilfmeer. Gottes Überlegenheit über menschliche Mächte hatte sich wieder einmal erwiesen. So gibt es Hymnen Israels, die Gottes Macht besingen und dabei die Erfahrungen der Rettung des Volkes aufzählen; nie fehlt in solchen Aufzählungen dann die Ur-Erfahrung am Schilfmeer.

 

Aber natürlich gab es auch Gegenerfahrungen: Erfahrungen von Niederlage, Misserfolg, frühem Tod etc. Für solche schmerzlichen Erfahrungen diente eine andere Ur-Erfahrung Israels als Orientierungspunkt. Sie ist mit dem Berg Sinai in der Wüste verbunden, wo das biblische Israel Gott in vulkanischem Feuer, im Beben der Erde und in urplötzlichen Gewittern als fremde und bedrohliche Macht erfuhr, der sich der Mensch nicht ohne Lebensgefahr nähern darf, die Beugung und Demut von ihm erwartet, Einhaltung der Riten und Gehorsam. Diese Ur-Erfahrung wurde ihrerseits zum Kristallisationspunkt von Texten, jetzt nicht der Hymnen wie im Fall der Rettung Israels am Schilfmeer, sondern sie wurde zum hermeneutischen Orientierungszeichen für alle Rechtssammlungen – die frühen wie die späten – und für alle Ordnungen des Gottesdienstes.

 

Schließlich aber erlebte das biblische Israel eine Niederlage, die bitterer war als alles Vorherige, die sich aber mit den früheren Mitteln der Erfahrung nicht mehr deuten ließ. Die babylonische Weltmacht zerstörte Jerusalem, zerstörte, was härter war, den Tempel als Wohnung Gottes und führte die geistige und handwerkliche Oberschicht in die Verbannung nach Babylon. Jetzt brachen in Israel grundsätzliche Fragen auf: Bedeutete dieses Ereignis das Ende des Glaubens, weil Gott seinen Tempel nicht schützen konnte? Oder hatte er sein Volk aufgegeben? In dieser Lage wurden die Propheten zur entscheidenden Deutehilfe Israels. Sie lehrten es, das Exil als Strafe Gottes für Israels Ungehorsam zu verstehen. Und sie lehrten Israel, die Erfahrungen des Heils und die Erfahrungen des Unheils als Taten des einen Gottes zu begreifen. So wurde das Gottesbild Israels noch einmal komplexer.

 

Ich könnte mit einer solchen Geschichte des biblischen Gottesglaubens fortfahren, halte aber hier ein. Mein Anliegen war es zu zeigen, wie die biblischen Texte ein Gottesvolk zeichnen, das immer mehr verschiedenartige Erfahrungen mit Gott in der Geschichte machte, und damit zugleich eine immer komplexere Gottesvorstellung entwarf.

 

Wichtiger aber ist mir persönlich die Feststellung, dass mit der Zahl und Komplexität der Erfahrungen dieses biblische Israel in seinen Aussagen über Gott immer sicherer wurde. Das zeigt sich etwa daran, dass Israel anfangs eher zurückhaltend gegenüber adjektivischen Reden von Gott war und statt dessen lieber von Gottes einzelnen Taten erzählte, später aber immer häufiger von Gottes Eigenschaften (z.B. Gnade und Barmherzigkeit) sprach. Die gewachsene Sicherheit in den Aussagen über Gott zeigt sich aber auch daran, dass das biblische Israel in der späteren Zeit immer mehr Aussagen über Gottes Stellung zur Welt als solcher und zum Menschen als solchem wagte. Es ist ja eines der Rätsel der biblischen Texte, dass sie sich an das Thema Welt und Mensch erst verhältnismäßig spät begaben. Im Kontrast dazu sind die ältesten religiösen Texte der großen Kulturlandvölker Mesopotamiens, also in Israels unmittelbarer Nachbarschaft, schon im 3. Jahrtausend v. Chr. überwiegend Schöpfungstexte. Diese Völker haben ihre Welt unmittelbar religiös gedeutet und haben z.B. die Schafe auf einen Schafgott, die Rinder auf einen Rindergott zurückgeführt und dann über die Wertigkeit der jeweiligen Götter reflektiert. Eine solche unmittelbar religiöse Deutung der Welt war Israel unmöglich, weil sein Glaube in geschichtlichen Erfahrungen gründete. Aber je mehr Erfahrungen es machte, desto sicherer waren nicht nur seine Aussagen über Gott, sondern auch seine Aussagen über Gottes Verhältnis zur Welt. Davon muss später noch die Rede sein.

 

Zusammenfassend gilt: Die Aussagen des biblischen Israel über Gott basieren wesentlich auf Erfahrungen der Geschichte. Je mehr unterschiedliche Erfahrungen Israel machte, desto komplexer wurde sein Gottesbild, desto sicherer wurde es aber auch in seinen Gottesprädikationen. Das Nebeneinander von alten und jungen Texten zeigt, dass die verschiedenen Erfahrungen – in guten wie in schlechten Zeiten – grundsätzlich gleichwertig betrachtet wurden.

 

II.

 

An dieser Stelle aber ist die zweite hermeneutische Vorbemerkung sachlich erforderlich. Ohne sie könnte das Bild einer gleichmäßig-linearen Entwicklung im Gottesglauben Israels entstehen: Je mehr Erfahrung in der Geschichte, desto mehr Wissen über Gott.

Ein solches Bild wäre idealistisch. Es würde verschweigen, was für den Gottesglauben Israels genauso charakteristisch ist wie die Erfahrungen in der Geschichte: die prägenden Auseinandersetzungen, ja Kämpfe um die Wahrheit des Glaubens. Diese Kämpfe sind besonders mit den Propheten Israels verbunden. Die Propheten waren nicht nur Künder der Zukunft Gottes, sondern auch Wahrer des rechten Gottesglaubens. In dieser Funktion gerieten sie notwendig in Konflikt mit ihrem Volk. Sie hatten andere, höhere Maßstäbe für das, was sie ein glückendes Gottesverhältnis nannten, als das Volk in seiner Deutung der Geschichte. Nicht die Geschichtserfahrung als solche also gab den Maßstab für das rechte Reden von Gott, sondern erst die rechte Deutung der Geschichte. Sehr oft, ja meist, deuteten auch die Propheten untereinander die Geschichte verschieden. Der Streit um die Wahrheit des Glaubens betrifft also meistens die Propheten in ihrem Konflikt mit dem Volk, oft aber auch die Propheten untereinander. Für beide Konstellationen möchte ich ein Beispiel nennen.

 

1)      Als der Prophet Hosea in der 2. Hälfte des 8. Jh.s v. Chr. auftrat, herrschte nach einer langen Periode kriegerischer Auseinadersetzungen zwischen Israel und den Aramäern Friede vor. Ein neuer wirtschaftlicher Wohlstand stellte sich ein; die Archäologie hat uns gezeigt, wie in dieser Zeit viele Neubauten in den Städten entstanden. Zu diesen Neubauten gehörten auch viele neue Kultbauten, und es wurden immer mehr Priester angestellt. Es gab mehr Gottesdienste als je zuvor. Merkwürdigerweise ist der Prophet Hosea mit dieser Entwicklung gar nicht einverstanden und verurteilt die immer zahlreicher werdenden Gottesdienste. Was hat der Prophet gegen so viele Zeichen der Frömmigkeit? Er ist der Meinung, dass die Quantität der Gottesdienste auf Kosten ihrer Qualität geht. Er attackiert die Menge der Gottesdienste, weil sie sich nicht mehr unterscheiden von den Gottesdiensten der bäuerlichen Kulturen in Israels Umwelt. Statt nach der Geschichte Gottes mit seinem Volk zu fragen und nach den Maßstäben, die diese Geschichte für das gegenwärtige Handeln setzt, sieht er ein mechanisiertes Gottesverständnis Platz greifen, nach dem Gott seinem Volk wohlgesonnen ist, wenn es ihm möglichst viele Gottesdienste feiert. So leitet die Fülle der Gottesdienste für diesen Propheten gerade auf den Irrweg, und die wachsende äußere Frömmigkeit lässt die Wirklichkeit Gottes „vergesseng, wie er sagt; diese Wirklichkeit ist für den Propheten nur im Verfolgen der Taten Gottes fassbar und im Fragen nach Gottes offenbartem Willen. So ist die abgründige Diagnose des Propheten, dass wohlmeinende Frömmigkeit im Gottesvolk gerade zur Verfehlung des wahren Gottes führt. Nicht der wahre Gott wird in den Gottesdiensten verehrt, sondern ein Götze, der seine Güte gegenüber den Menschen nach der Menge ihrer Gottesdienste richtet.

2)      Härter war der Kampf um die Wahrheit des Glaubens, wenn er innerhalb der Prophetie stattfand. Für die Glieder des Volkes Israel waren es furchtbare Zeiten, wenn Prophet gegen Prophet stand und beide unter Berufung auf den wahren Gott genau das Gegenteil des anderen sagten. Ein einfaches Glied des Volkes musste sich hier hilflos fühlen, weil es nicht ahnen konnte, welcher Prophet sich mit Recht und welcher zu Unrecht auf Gott berief. Das war besonders der Fall, als die Babylonier vor den Toren Jerusalems standen und es einzunehmen drohten. Der Prophet Jeremia verkündete, dass die Babylonier ein Werkzeug Gottes seien, um das schuldige Israel zu strafen; seine Gegner sagten an, dass Gott treu zu seinem Volk stehen und die Babylonier wie einst die Ägypter besiegen werde.

 

Wenn dieser Konflikt nicht dazu führen sollte, dass die Prophetie bedeutungslos und irrelevant werden würde, mussten die Propheten Kriterien entwickeln, an denen ein einfaches Glied des Volkes zwischen wahrer und falscher Prophetie unterscheiden könnte. Sie haben viele solche Kriterien genannt, angefangen beim Maßstab des ethischen Verhaltens des jeweiligen Propheten bis hin zum Rat, abzuwarten, was die Zukunft bringen würde. Ich nenne hier nur die beiden m.E. wichtigsten Kriterien, die bis heute Gültigkeit beanspruchen können. Beide wurden vom Propheten Jeremia entwickelt.

a)      Das erste Kriterium besagt, dass nur dort von Gottes Wahrheit beim Propheten gesprochen werden darf, wo diese Wahrheit deutlich von menschlichen Wünschen unterschieden werden kann. Jeremia wirft seinen Gegnern unter den Propheten vor, dass sie Gott mit ihrem Wunschdenken verwechseln, wenn sie immer wieder und einzig Gottes Fürsorge für sein Volk verkünden. Gott wird so ein „Gott aus der Näheg, d.h. ein Gott, der dem Menschen vertraut ist, weil er denkt und handelt wie dieser, während Jeremia Gott auch als einen „Gott aus der Ferneg (Jer 23,23) kennt, der dem Menschen fremd bleibt, ihm harte und unerfreuliche Ereignisse sendet, ihm unverständlich und verborgen bleibt. Nur ein Gott, der auch solche Erfahrungen abdeckt und nicht nur der immer dem Menschen zugewandte und gütige Gott ist, ist für den Propheten wahrer Gott.

b)      Das zweite Kriterium, um zwischen wahrer und falscher Prophetie zu unterscheiden, zielt auf die Wirkung des prophetischen Wortes. Jeremia wirft seinen Gegnern, die Gottes Güte und Treue gegenüber Israel predigen, vor, „sie stärken die Hände der Übeltäterg (Jer 23,14), d.h. sie bestätigen die Menschen in ihren bösen Absichten, weil Gott doch alles zum Guten wenden würde, während es für den Propheten selber Zeit zum Umdenken ist, Zeit zur „Umkehrg, d.h. der Änderung der Gesinnung und der Taten. Wo das Wort der Propheten die Menschen am Wandel hindert und statt dessen ihre Gewissen einschläfert, sie unbeweglich macht, ist für Jeremia nicht Gottes Wort der Auslöser, sondern menschliches Wunschdenken.

 

Zusammenfassend gilt: So gewiss das biblische Israel Gott in der Geschichte erfahren hat und so gewiss es Gott in der Geschichte immer besser verstanden hat, so gewiss war ihm die Deutung dieser Geschichte nicht immer zugänglich. Es brauchte für die Deutung die Propheten. Aber die Propheten waren mit ihrer Deutung der Geschichte überaus häufig im Konflikt mit dem Volk, das die Geschichte einfacher und einliniger verstand, und gelegentlich auch im Konflikt untereinander. Diese Konflikte waren hilfreich, weil sie zu einer immer klareren und schärferen Unterscheidung zwischen wahrer und falscher Rede von Gott führten.

 

Ich bin so lange bei den beiden grundlegenden hermeneutischen Prinzipien des biblischen Gottesglaubens stehengeblieben, weil sie m.E. entscheidend die Besonderheiten der alttestamentlichen Gottesvorstellung geprägt haben. Sie sind auch wesentlich für die Gegenwartsbedeutung des Alten Testaments. Gottes Handeln in der Geschichte, wie sie Israel in seinen Erzählungen verstand, schafft die Brücke, um die Erfahrungen der Gegenwart mit jenen älteren Erfahrungen Israels ins Gespräch zu bringen. Der Kampf der Propheten um wahres und falsches Gottesverständnis schafft dem modernen Leser der Texte die Möglichkeit, die prophetischen Entscheidungen über wahr und falsch anzunehmen oder aber zu verwerfen.

 

III.

 

Was aber ist das inhaltliche Ergebnis der beiden bisher behandelten hermeneutischen Grundentscheidungen des Alten Testaments? Ich werde mich auf zentrale Aspekte des Gottesbildes beschränken und beginne mit dem Verständnis der göttlichen Heilstaten, wie es ohne Deutung geschichtlicher Erfahrung und ohne prophetischen Kampf um die Wahrheit nicht verständlich wäre.

 

Ich sagte oben schon, dass die vermutlich älteste Gotteserfahrung des biblischen Israels die Rettung vor der militärischen Übermacht eines ägyptischen Heereskontingentes war, das im Meer ertrank. Diese Grunderfahrung diente als Orientierungspunkt für zahlreiche spätere Bewahrungen vor Tod und Untergang. Beim Propheten Hosea diente sie später geradezu als Definition Gottes: „Ich bin der Herr, dein Gott, vom Land Ägypten herg (Hos 12,10; 13,4). Offensichtlich musste man für diesen Propheten vor allem diese Erfahrung nennen, wenn man vom Gott Israels reden wollte. Vor allem aber diente sie dem späteren Israel dazu, den Unterschied zwischen Gott und Mensch einzuprägen. Hymnen preisen Gott als einen Gott, „der allein Wunder tutg (Ps 136,4). Dabei meint der Begriff „Wunderg nicht eine Durchbrechung von Naturgesetzen, sondern in der Sprache des Alten Testaments die Erfahrung von Rettung in Situationen, in denen menschlicherseits keine Rettung mehr zu erwarten ist. Deswegen prägen Propheten, aber auch Lehrer, ihren Hörern immer wieder ein, dass alles Vertrauen in Menschen und menschliche Kräfte schnell an seine Grenze stößt, dass aber ein Vertrauen auf den Gott, der Wunder tut, dem Leben einen festen Halt gibt.

 

Bis zu diesem Punkt waren sich alle Glieder des Gottesvolkes prinzipiell einig, wenn auch viele unter ihnen mehr von dem Unterschied zwischen Gott und Mensch geredet als aus ihm gelebt haben werden. Die Propheten aber haben den Gedanken noch deutlich verschärft. Sie haben aus dem  Gegensatz Vertrauen auf Gott – Vertrauen auf Menschen eine harte Alternative gebildet und betont, dass es nur zweierlei sich gegenseitig ausschließende Weisen der Lebensgestaltung gibt: das Vertrauen auf die eigenen Kräfte bzw. auf den Kontakt mit einflussreichen Menschen oder das Vertrauen auf Gott, seine Güte und seine Zusagen. Unter Rückgriff auf diesen Maßstab haben sie etwa die Politik eines aufgeklärten Königtums scharf verurteilt (Jes 7 u.o.). Das einfache Volk hat den Propheten in solcher Zuspitzung der Gotteserfahrungen kaum zu folgen vermocht.

 

Noch ein anderer wichtiger alttestamentlicher Begriff ist unlöslich mit der Grunderfahrung in Ägypten verbunden, die sog. Erwählung. Diese Vorstellung ist eine notwendige Konsequenz der Bindung des Glaubens an Erfahrungen in der Geschichte. Solche Erfahrungen sind immer partikulare Erfahrungen einer beschränkten Gruppe. „Erwählungg meint in diesem Kontext, dass die Rettung Israels am Schilfmeer vor den Ägyptern keine Erfahrung war, die durch beliebige Gegenerfahrungen aufgewogen werden könnte, sondern eine Basiserfahrung, die die Bindung Gottes an diese Menschengruppe, das biblische Israel, implizierte. Das spätere Israel hat in diesem Zusammenhang gern von der „Liebeg Gottes zu Israel gesprochen, hat aber dann zugleich betont, dass diese Liebe Gottes Israel nicht getroffen habe, weil es wertvoller als andere Völker sei, sondern nur darum, weil es ihm als Modell für die Völker dienen sollte (Dtn 7). 

 

Auch hier wiederum haben die Propheten sehr viel härtere Folgerungen gezogen als das übrige Israel. Zwar hat auch das Volk als ganzes gewusst, dass Erwählung eine Aufgabe für Israel implizierte, und es hat diese Aufgabe in dem berühmten Reformprogramm aus der Zeit Josias mit dem Begriff „heiliges Volkg (Dtn 7 u.ö.) bezeichnet. Es wollte damit zum Ausdruck bringen, dass die vielfältige Erfahrung der Güte Gottes und besonders die Bindung Gottes an Israel in der Erwählung für das Volk nicht nur ein Vorzug war, sondern auch eine Verpflichtung, die es aus dem Kreis der Völker heraushob. Die Propheten dagegen haben ihr Volk kritisch beurteilt und ihm vorgeworfen, dass das Wissen um die Erwählung es satt und unbeweglich machte, nicht Ansporn zum Handeln war, sondern im Gegenteil zur Verhinderung ethischer Impulse, zur Beruhigung der Gewissen führte. So konnte etwa ein Amos sagen: „Euch allein habe ich erkannt unter allen Sippen der Erdeg – bei diesem Anfang müsste man alle Hörer zustimmend mit dem Kopf nicken sehen – , „darum suche ich an euch heim alle eure Vergeheng (Am 3,2). Erwählung ist für Amos keine göttliche Garantiererklärung für unbegrenzte Wohltaten, sondern eine besondere Verantwortung, die Israel aus den Völkern heraushebt, an der Israel aber schmählich versagt, so dass es nun auch weit härter bestraft wird als alle Völker. Wenn die Nachbarvölker Israels auch die grausamsten und abscheulichsten Kriegsverbrechen begehen, bis hin zur Tötung unschuldiger schwangerer Frauen, so ist das für den Propheten weniger verdammenswert als die Unterdrückung sozial Abhängiger in Israel, weil Israel als Volk Gottes so viel mehr von Gott weiß (Am 1-2).

 

Der andere, härtere Maßstab der Propheten kommt auch bei der Auslegung des berühmten Anfangs des Dekalogs zum Ausdruck, der wichtigsten Sammlung ethischer Grundsätze im Alten Testament. Dort heißt es: „Ich bin der Herr, dein Gott, der dich aus Ägyptenland, aus der Knechtschaft geführt hatg – also wieder der Rückgriff auf die Grunderfahrung am Schilfmeer –, „du sollst keine anderen Götter haben neben mirg (Ex 20,2f.; Dtn 5,6f.). Wenn dieses 1. Gebot, feierlich in der Gottesrede formuliert, mit der Erfahrung der Rettung in Ägypten verbunden wird, so will es primär besagen, dass die exklusive Bindung Gottes an Israel am Schilfmeer die exklusive Verehrung Gottes durch Israel notwendig nach sich zog. So weit, so gut, aber wo lag die Grenze dieser Exklusivität? Das Volk sah in seiner Mehrzahl hier kein Problem. So lange man Gott im Gottesdienst verehrte, konnte man auch kultische Bräuche anderer Völker (wie etwa die Kuchen für die Himmelskönigin, Jer 7,18) übernehmen. Ungleich radikaler deuteten die Propheten das 1. Gebot. Sie beschränkten es nicht auf den kultischen Bereich, sondern übertrugen es auf das Gebiet der Politik, indem sie das Vertrauen, das Israel in der Vorbereitung auf den Kampf gegen die Assyrer auf die verbündeten Ägypter setzte, als Bruch des 1. Gebots interpretierten (Jes 30,1-5; 31,1-3). Für die Propheten rückte Ägypten in dieser Lage insofern in die Rolle eines Gottes, als ihm eine vertrauensvolle Erwartung entgegengebracht wurde, wie sie Rechtens nur Gott gebührte.

 

IV.

 

Im Vorangehenden ging es mir darum, einerseits die Deutungen der grundlegenden Heilserfahrung Israels mit den Begriffen „Wunderg und „Erwählungg darzustellen und zugleich zu zeigen, wie die Interpretation dieser Begriffe durch die Propheten ungleich härter ausfällt als durch das gemeine Volk. Das Alte Testament, so ist meine These, ist durch und durch prophetisch geprägt. Ich könnte nun die gleich Differenz zwischen Propheten und Volk auch an der Deutung der zweiten Grunderfahrung Israels, der Offenbarung Gottes am Berg Sinai, behandeln. Wichtiger aber erscheint es mir an dieser Stelle, auf das Verhältnis von Gott und Welt einzugehen. Dabei verzichte ich hier aus Raumgründen darauf, den Einfluss prophetischen Denkens herauszustellen.

 

Ich sagte oben, dass der Begriff des „Wundersg Israel und besonders seinen Propheten dazu diente, die Macht Gottes scharf von den Möglichkeiten der Menschen zu unterscheiden. Genauso scharf unterschied Israel auch Gott und die Welt voneinander. Gott war der Schöpfer der Welt, alles außer ihm – sogar seine himmlische Umgebung (Jes 6,2) – war Geschöpf. In der wichtigsten Sammlung ethischer Grundsätze, dem schon zitierten Dekalog, heißt es im 2. Gebot programmatisch: „Du sollst Dir kein Bildnis noch irgendein Abbild machen: weder von dem, was oben im Himmel, noch von dem, was unten auf der Erde, noch von dem, was im Wasser unter der Erde istg (Ex 20,2-4; Dtn 5,6-8). Nichts im Universum in seiner dreifachen Gestalt, auch nichts im Himmel, ist Gott so ähnlich und nahe, dass es als sein Abbild dienen  kann. Alles ist Schöpfung und kann in seiner Schönheit und Pracht allenfalls als Zeugnis für den Schöpfer dienen, nicht aber als sein Bild.

 

Diese strenge Unterscheidung von Gott und Welt war den Religionen in der Umwelt des biblischen Israel fremd. Sie deuteten die Welt in vieler Hinsicht göttlich, allerdings in Abstufungen. Sie erklärten die Welt gewöhnlich mit der Kategorie der Emanation: Ein Ur-Götterpaar gebar ein anderes Paar, dieses ein weiteres etc. Nach dieser Deutung stößt der Mensch ständig auf Göttliches in der Welt, nur dass er lernen muss, die verschiedenen Stufen des Göttlichen zu differenzieren. Anders das biblische Israel. Aufgrund seiner Geschichtserfahrung, die es lehrte, erst lange Zeit zuzuwarten, bis es sich an die Deutung der Welt als ganzer heranwagte, urteilte es, dass die Welt als solche profan ist, und leugnete das Nebeneinander von Gott und Göttin, leugnete zugleich die Fülle der Zwischenwesen zwischen Gott und Mensch, von denen der übrige alte Orient sprach. Die Welt konnte jederzeit der Ort einer Gottesbegegnung werden, wann immer Gott es wollte, aber sie hatte als solche keinen religiösen Charakter. Sie spiegelte Gottes Handeln als Schöpfer und Geber des Lebens wider, wies insofern ständig auf ihren Schöpfer hin. Aber sie war als profane Welt endlich (Gen 8,22), ohne Anteil an Gottes Ewigkeit.

 

Je mehr das reife Israel Gott von der Welt und vom Menschen unterschied, desto sensibler wurde es für die Gefahr, dass Menschen auf Gott ihre Wunschvorstellungen übertragen und sich ein Gottesbild zurechtlegen, in dem Gott der Erfüller der menschlichen Wünsche ist. Im Blick auf diese Gefahr erzählte es, wie das älteste Israel schon in der Stunde der ersten und grundlegenden Gottesoffenbarung in der Wüste am Berg Sinai den lebendigen Gott in seiner Fremdheit ablehnte und statt dessen sich in der Gestalt des Goldenen Kalbes das Bild von einem Gott schuf, wie es ihn sich wünschte. So tritt in den alttestamentlichen Texten der wahre Gott, wie ihn der Mensch immer nur partiell erkennt, dem Wunschgott entgegen, wie ihn der Mensch selber schafft, als ein Gegenüber, das er voll durchschaut und das ohne Rätsel ist.

 

V.

 

Wenden wir uns kurz dem Menschenbild des Alten Testaments zu, so muss als erstes seine illusionslose und nüchterne Ausrichtung auffallen. Wir können es auch so ausdrücken: Je mehr im Alten Testament die unvergleichliche Macht Gottes gepriesen wird, je mehr die Differenz zwischen Gott und Mensch hervorgehoben wird, desto mehr erscheint der Mensch nicht nur als schwach und sterblich, sondern vor allem als unfähig oder doch zumindest als nicht bereit, Gottes Willen in seinem Leben zu erfüllen.

 

Dieses vorherrschend negative Menschenbild ist vor allem ein prophetisches Erbe. Seit früher Zeit hatten die Propheten, wie wir oben gesehen haben, ihren Zeitgenossen eingeprägt, dass die erfahrenen Heilstaten Gottes, seine Rettung und sein Schutz vor Feinden und Unglück, auf Seiten der Menschen eine Antwort erwarteten. Die Maßstäbe für diese Antwort hatten die Propheten ungleich höher angesetzt als die anderen Glieder des Gottesvolkes. An diesen hohen Maßstäben aber haben die Propheten ihre Zeitgenossen scheitern sehen und sie deshalb als unwillig und unfähig zum Hören auf Gottes Willen, wie er von ihnen ausgelegt wurde, beschrieben. Als dann die Babylonier nicht nur Jerusalem, sondern auch seinen Tempel zerstörten, haben die Propheten dieses einschneidende Ereignis als Strafe Gottes für den Ungehorsam des Volkes gedeutet. Ihr Menschenbild ist dadurch noch dunkler geworden. Sie sehen eine Generation vor sich, die nicht verstanden hat, dass die Erfahrung der Güte Gottes für die Menschen Verpflichtungen mit sich bringt. Sie sehen Menschen vor sich, die durch die Gewöhnung an das Böse, d.h. den Egoismus, unfähig zum Guten geworden sind: „Kann ein Neger seine Haut ändern oder ein Panther seine Flecken? So wenig könnt auch ihr Gutes tun, die ihr an das Böse gewohnt seidg (Jer 13,23). Aufgrund solcher Sicht des Menschen erwarten die Propheten Heil nur noch von Gott, der einen neuen Menschen schaffen kann und wird, der ihm gern gehorsam ist (Jer 31,31-34; Ez 36,26f.). Ich möchte in diesem Zusammenhang erneut betonen, dass dieses illusionslose Menschenbild auf dem Hintergrund der hohen Maßstäbe zu verstehen ist, die die Propheten – im Unterschied zu ihren Zeitgenossen – für ein glückendes Gott-Mensch-Verhältnis aufrichteten.

 

Das negativ geprägte Menschenbild der Propheten hat Niederschlag gefunden in den Grundmythen der Bibel an ihrem Anfang. Dort wird erzählt, wie Gott den Menschen als sein Gegenüber schuf und ihm eine Fülle von Erweisen seiner Güte schenkte: einen Garten als ideales Arbeitsfeld, die Frau als ihm genau entsprechendes Gegenüber, die Tiere als seine Gehilfen. Aber der Mensch strebte nur nach einem: nach Unabhängigkeit von Gott. Er wollte frei von Gott sein und für sich selber sorgen. Aber das kann er nicht. So steht am Ende der Erzählung ein Mensch da, der Gott und Gottes Fürsorge verloren hat, damit aber nicht einen entbehrlichen religiösen Überbau seines Lebens, sondern mit Gott auch sein Verhältnis zur Arbeit verloren hat, die ihm nun Last und Mühe bereitet, sein Verhältnis zur Frau, das nur noch durch gegenseitige Vorwürfe charakterisiert ist, und sein Verhältnis zu den Tieren (Gen 3). Die Unfähigkeit und Unwilligkeit des Menschen, sein Leben von der Güte Gottes her zu nehmen und aus ihr heraus zu leben, erscheint hier als das eigentliche Unglück des Menschen, das das Leben jedes Menschen zutiefst bestimmt. Späte Gebete im Psalter bekennen, dass Menschen immer als Schuldige vor Gott stehen und immer auf seine Vergebung angewiesen sind (Ps 130 etc.).

 

Wie verhält sich nun Gott zu einem Menschen, der nur bemüht ist, sich von Gott zu lösen und am liebsten selber Gott wäre? Es sind besonders tiefsinnige Texte, die auf diese Frage antworten; sie klären zugleich, wie das biblische Israel Gottes Gerechtigkeit und Gottes Güte zueinander in Beziehung setzte. Ich nenne 4 Beispiele:

1)      Ich beginne mit der Fortsetzung des zuvor genannten Grundmythos, der von der Lösung des Menschen aus der Verbindung mit Gott erzählte. In der Folge wird berichtet, wie dieser von Gott gelöste Mensch die Ungleichheit zwischen den Menschen in der Welt nicht zu ertragen vermag und zum Brudermörder wird. In großem Entsetzen über diese Tat und unter Schmerzen beschließt Gott darauf, die Menschen, die er geschaffen hat, in einer Sintflut zu vernichten. Aber Gott ist inkonsequent. Er will nicht ohne Partner sein und rettet ein Menschenpaar, das in seiner Arche ein Paar jeder Tierart am Leben bewahrt. So gibt es nun eine 2. Menschheit und eine 2. Schöpfung. Worin sind sie unterschieden von der 1. Schöpfung? Nicht etwa darin, wie man erwarten könnte, dass der Mensch sich geändert hätte und durch neue Gebote Gottes besser geworden wäre. Eine solche positive Anthropologie kennt das Alte Testament nicht. Sie kennt nur einen Menschen, und das ist der Mensch, der sich aus Gottes Bindung und Güte lösen möchte. Vielmehr hat sich Gott geändert. Er schwört, dass er nie wieder eine Sintflut bringen und die Menschen vernichten wird, „solange die Erde stehtg (Gen 8,22). Die 2. Menschheit lebt in einer Bewahrung, die die erste Menschheit noch nicht kannte. Gott aber hat seine Macht eingeschränkt. Er ist nicht mehr allmächtig in dem Sinne, dass er alles tun könnte. Er hat seine Möglichkeiten zu handeln selber eingeschränkt – zugunsten des Menschen, den er trotz dessen Halsstarrigkeit als Partner behalten möchte. Der Mensch lebt von Gottes Inkonsequenz. Wäre Gott konsequent, müsste er jeden Tag die Sintflut bringen.

 

2)      Erzählt dieser Mythos vom Verhalten Gottes zum Menschen generell, so ein anderer Text ähnlich von seinem Verhalten zum Volk Israel. Es ist die Situation vorausgesetzt, die ich oben schon berührt habe: In der Stunde der Offenbarung Gottes am Berg Sinai in der Wüste, d.h. im Wissen um die Eigenarten des lebendigen Gottes, baut Israel sich das Goldene Kalb, d.h. einen Gott, wie es ihn gern haben möchte, einen Wunsch-Gott. Den lebendigen Gott stößt es damit von sich. Was kann Gott in dieser Situation anderes tun, als sein Volk, dem er sich soeben gezeigt hat, um mit ihm in eine dauerhafte Bindung zu treten, zu vernichten? Aber auch wenn Gott sein Volk allein und sich selber überlassen würde, wäre es wegen seiner Kleinheit verloren. In dieser Situation erzählt Ex 33, dass Gott seinen Engel mit Israel auf seinem gefahrvollen Wege schickt. Er geht nicht selber mit ihm. Würde er es auf seinem Weg durch die Wüste begleiten, könnte sein Zorn über seine eigene Verwerfung durch Israel in ihm aufflammen und er könnte Israel vernichten. Der Engel aber, der Israel begleitet, ist die personifizierte Güte Gottes, ohne die Möglichkeit des Zorns und der Vernichtung. Indem Gott seinen Engel Israel begleiten lässt, bewahrt er es vor seiner eigenen strafenden Gerechtigkeit und vor Vernichtung. Er ist unfähig, sein Volk zu vernichten. Israel lebt, weil Gott es vor seinem eigenen zerstörerischen Zorn schützt.

 

3)      Letztlich sind diese Erzählungen im Pentateuch wiederum prophetischer Natur. Jedenfalls ist der älteste biblische Text, der davon berichtet, wie Gott Israel vor seinem eigenen Zorn schützt, ein prophetischer Text aus dem Buch Hosea (Kap. 11). Er enthält am Anfang eine geschichtstheologische Anklagerede, die Gottes Verzweiflung zeigt. Gott hat sein Volk aus der Knechtschaft Ägyptens befreit, hat es zu seinem Sohn adoptiert, hat den Sohn geheilt, wenn er krank wurde und ihn liebevoll versorgt, aber in all diesen Zeichen seiner Güte und Zuneigung hat er nur Undankbarkeit des Sohnes erlebt. Jetzt scheint ihm nichts anderes übrigzubleiben, als sein Volk zu vernichten. Aber er kann die Vernichtung nicht vollstrecken. In einer feierlichen Verzichterklärung erklärt Gott  seine Unfähigkeit, seinem zerstörerischen Zorn freie Hand zu lassen. Denn in Gott beginnt eine leidenschaftliche andere Kraft aufzuflammen, die gegen den Zorn gerichtet ist und seiner Zuneigung zu Israel zum Sieg verhilft. Auch wenn er Israel strafen muss – gedacht ist an den Untergang des Nordreichs und das assyrische Exil –, so bedeutet doch diese Strafe nicht das Ende der göttlichen Bindung an Israel, sondern vielmehr deren Neubeginn.

 

4)      Ein letzter prophetischer Text, den ich gewählt habe, zeigt einen etwas anderen Aspekt der Übermacht der göttlichen Güte über den Zorn. In Kap. 33 seines Buches berichtet der Prophet Ezechiel, wie Gott ihn zum Wächter für Israel bestellt hat. Er muss jedes Glied des Gottesvolkes vor großer Gefahr warnen, und er wird von Gott dafür verantwortlich gemacht, dass er jeden einzelnen Menschen erreicht. Der Prophet ist nicht dafür verantwortlich, wie das einzelne Glied des Volkes auf die Warnung reagiert; aber gewarnt werden muss jeder einzelne. Vor welcher Gefahr muss er (oder sie) gewarnt werden? Die Gefahr ist niemand anderes als Gott selber, der im Begriff ist, geschehene Schuld zu ahnden. Der Auftraggeber der Warnung und die Gefahr selber sind ein und derselbe Gott. Das aber heißt nichts anderes, als dass Gott zwar aufgrund seiner Gerechtigkeit geschehene Schuld strafen muss, dass er aber lieber nicht strafen möchte und hofft, dass alle Schuldigen sich durch den Propheten warnen lassen, damit sie der Strafe entgehen.

 

Alle die genannten Texte betonen die Ungleichheit zwischen Zorn in Güte in Gott. Wären beide Kräfte in ihm gleichwertig, wäre Israel längst vernichtet. Ein Psalm (Ps 30,6) drückt diesen Sachverhalt so aus: „Sein Zorn währt einen Augenblick, seine Güte aber lebenslangg.

VI.

 

Ich komme zum Schluss. Je mehr Erfahrungen das biblische Israel mit Gott in der Geschichte machte, je sicherer es in der Deutung dieser Erfahrungen durch seine Propheten wurde, desto weniger hat es für sein Heil von sich selber und von seinem eigenen Handeln erwartet, desto mehr hat es allein auf Gottes Güte vertraut. Die Entmythisierung der Welt, ihre Deutung als profan und als Schöpfung hat dazu ebenso beigetragen wie das ganz und gar illusionslose Menschenbild der Propheten, das seinerseits aus den hohen Maßstäben gewonnen wurde, die die Propheten an ihr Volk wegen der vielen Erfahrungen der Güte Gottes anlegten und an denen sie ihr Volk scheitern sahen.

 

So wurde Israels Glaube über die Jahrhunderte hinweg immer theozentrischer. Immer häufiger hat das biblische Israel zum Ausdruck gebracht, dass es nur überlebt hatte, weil Gott unfähig war, sein schuldiges Volk zu vernichten. Seit es im babylonischen Exil unter den Völkern lebte, hat Israel auch immer öfter vom Heil der Völker gesprochen und seine eigenen Erfahrungen auf die Völker übertragen. Im Buch Jona z.B. hat Israel erzählt, dass Gott zwar den Völkern, wenn sie schuldig werden – wie das sprichwörtlich böse Ninive –, den Untergang ankündigt, dass er aber – wie bei Israel – hofft, die Ankündigung nicht vollstrecken zu müssen. Als Ninive Buße tut, wird es von Gott verschont.

 

Wenn mehr Zeit geblieben wäre, hätte ich über Israels Umgang mit dem Leid sprechen müssen. In einem langen Buch hat es dargestellt, wie ein von furchtbarem Unglück und von Krankheit geplagter Mensch mit Namen Hiob an Gott zu verzweifeln droht, zuletzt aber sein Leid aus Gottes Hand anzunehmen bereit ist. Vor allem aber hat Israel vom Gottesknecht gesprochen, der als Werkzeug Gottes ein Leiden trägt, das eigentlich Israel tragen müsste, der aber auf diese Weise Israel von diesem Leiden befreit. Die christliche Gemeinde hat später Jesus Christus als verborgenen Erfüller der Aussagen vom Gottesknecht bekannt. In seinen abgründigsten Texten hat Israel also nicht nur davon gesprochen, dass es überlebt hat, weil Gott zu seiner Vernichtung unfähig ist, sondern dass Gott die Rettung Israels – und der Völker – im voraus bereitet, indem er durch das Leiden des Gottesknechts Israel und die Völker vor der Vernichtung bewahrt.